neuroraum-DozentInnen im Interview

Dr. Bettina Jenny, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Wie haben Sie den Weg in Ihr Spezialgebiet ASS gefunden?

Ich habe in der „Feld, Wald und Wiesen“-Kinderpsychiatrie, wie ich sie nenne, begonnen und Erfahrung mit Kindern, Jugendlichen und Familien mit ganz unterschiedlichen Schwierigkeiten und Herausforderungen gesammelt.

Dabei habe ich mich mehrmals in einem Bereich spezialisiert, der (noch) nicht so „in“ war, aber mit dem sich mein damaliger Oberarzt, Dr. med. R. Gundelfinger, befasst hat. Zudem habe ich mich um Kinder mit Entwicklungsverzögerungen gekümmert, was wohl mit meiner Erstausbildung als Volksschullehrerin zusammenhing. Da kam dann Ende der 90er-Jahre die Frage auf, wo eigentlich die Kinder mit Autismus stecken, da wir sie bei uns in der Kinderpsychiatrie kaum antrafen. Dr. Gundelfinger vertiefte sich in die Thematik des Autismus und ich zog mit, legte aber bald einen Schwerpunkt auf das hochfunktionale Spektrum mit dem Asperger-Syndrom. Es gibt auch in meinem Privatleben einen Bezug zur Thematik, was mir aber erst später bewusst wurde.

Was macht die Arbeit mit autistischen Menschen so interessant?

Ich finde es faszinierend, zu erkennen, dass man die Welt auch ganz anders wahrnehmen und sich in ihr bewegen kann. Bereits als Kind interessierte ich mich für das Verhalten von Tieren und wollte Verhaltensbiologin werden. Dabei geht es um die Frage nach dem (evolutionären) Sinn bzw. der Funktion eines Verhaltens.

So begann ich mich auch bei autistischen Verhaltensweisen zu fragen, wie sie entstehen und welche Funktion dahinter steckt, und mein neurotypisches Verhalten auf dessen Funktion hin zu hinterfragen. Die Arbeit mit Menschen mit ASS lässt mich auch immer wieder darüber staunen, wie differenziert das soziale Gehirn der Neurotypischen entwickelt ist, um die sozialen Aufgaben zu bewältigen. Im Gespräch mit Menschen mit ASS wurde mir erst bewusst, wie viele der an sich „unsauberen“, ethisch fragwürdigen und sachlich gesehen sinnlosen neurotypischen Verhaltensweisen, die Menschen mit ASS daher ungern lernen möchten, uns zu einer so erfolgreichen sozialen Spezies haben werden lassen.

Erst durch das bessere Verständnis der neurotypischen Denkweise gelingt es mir, Menschen mit ASS in der neurotypischen Welt als Tourguide zu begleiten und ihnen zu helfen, sich an die neurotypischen Gepflogenheiten anzupassen, sofern sie dies wünschen. Umgekehrt gelingt es mir dadurch besser, dem neurotypischen Umfeld von Kindern und Jugendlichen die ebenfalls fein austarierte und in sich funktionale autistische Welt, Sichtweise und deren Funktionalität aufzuzeigen.

Was wünschen Sie sich für Ihren Kurs bei uns Anfang 2023?

Ich freue mich darauf, Menschen aus verschiedenen Berufsfeldern und mit unterschiedlichen Vorerfahrungen kennenzulernen, die sich ebenfalls für das Spannungsfeld der neurotypischen und autistischen Wahrnehmungs- und Denkweise interessieren und bereit sind, ihre eigenen Denkweisen und Normen zu reflektieren.